Zukunft Solingen – Eine Diskussion mit Tiefgang

ganz ehrlich: Ich kam mit skepsis ...

Es kann ja Zufall sein. Oder auch wieder einmal das Eingreifen des Koboldes namens Ironie. Im Mittelpunkt des Bildes, das für die Diskussion über die Solinger Zukunft wirbt, steht eine Schnellstraße – die im Nichts beginnt und meist im verschlungenen Stau endet. Sie war mal als großer Entwurf geplant und wurde dann zur großen Pleite – eine Stadtautobahn mit mäßigem Nutzen und keinen wirklich guten Verbindungen zu den wichtigen oder neuralgischen Verkehrsknoten. Wie gesagt: Selbst wenn es Zufall sein sollte, die Symbolik hätte nicht besser geraten können. Oder wird jetzt endlich der sprichwörtliche Gordische Knoten der Unsicherheit durchschlagen. Was zu bezweifeln ist. Schaut man sich die drei Zahnräder rechts an und nimmt die Pfeile als Laufrichtung ernst, dann ist Stillstand vorprogrammiert. Oder die Striche sind falsch. Wie immer in Solingen: Irgendwas stimmt nicht, keiner weiß genau, was. Oder das Torendiagramm links. Der mehrheitliche Anteil sei angeblich 10 % groß, ein geschätzter echter 10prozentiger wird als 35 % bezeichnet. Und 20 Prozent sind genau so groß – rechnen kann man in dieser Stadt wohl nicht (siehe Haushaltsdefizit) – – – oder muss mit allem, mit allem rechnen. 

Ich werde mir anschauen und anhören, was bei der Diskussion noch alles zutage tritt. Außer Referaten, die vom Titel her allenfalls wie müde Appelle wirken ... doch ich hoffe, mich zu täuschen.

Was Solingen braucht, ist eine Anpassung an die Realität – und keine Neu-Erfindung seiner selbst. oder gerade deswegen doch?

Schon immer haben Kritiker behauptet, in So-lingen sei alles anders. Das totale Gegenteil ist der Fall. Solingen teilt mit dem Rest der Welt die Eigenschaft, dass alles sehr eigen ist – von eigenständig über eigenartig bis eigenbrödle-risch. Weshalb wir schon beim ersten Para-digm-Shift (wie man grundsätzliche Verände-rungen im Business-Denglisch nennt) sind.

Galt bislang – sozusagen in den Phasen Industrie 2.0 und 3.0 – die Formel "Think global, act local", so hat sich das unter den technisch-funktionellen Vorzeichen von Industrie 4.0 (steht für "vernetzte Prozesse") genau umgekehrt: 

Think local. Act global.

Frei übersetzt: wie kann man das USP, die Be-sonder- und Eigenheiten von Solingen weltweit (oder zumindest über die Stadtgrenzen hinaus) sicht- und nutzbar machen. Anders gefragt: Vermarktet sich Solingen mit den an die Stadt geknüpften Assoziationen, Werten, Erwartun-gen richtig und gut, nachhaltig und profitabel?

Mal sehen, ob es Antworten auf diese Frage(n) gibt.

In Solingen leben derzeit Menschen aus fast 100 Nationen, etwa 40 nicht nur vereinzelt gesprochene Sprachen sind Realität. Andere Kulturen, Religionen, Werte und Lebensweisen sind also Alltag in der Stadt. Doch die Antwort auf diese Frage ist immer die gleiche, immer die gleich mutlos machende, niedeschmetternde, ja, sogar eigentlich völlig dämliche: Sie heißt Integration. Wieso Integration? Dann kann man doch gleich von Um-Erziehung, von Zwang zur Verdeutschung, von "und willst du nicht mein Bruder sein, dann ..." reden. 

Warum, verflixt noch mal, lernen wir nicht daraus, was Pädagogen und Psychologen, Politiker und Praktiker gleichermaßen als sinnvolles Konzept ansehen: von Inklusion statt von Integration (und kommen sie bloß nicht mit der Plattitüde, das sei ja wohl das selbe).

Kulturelle Inklusion

Inklusion heißt, man lässt die Vielfalt, das An-derssein, die jeweiligen Identitäten unangeta-stet stehen, geht über Akzeptanz hinaus, indem man sie fördert und sozusagen Handlungsbüh-nen bietet. Während Integration allenfalls bedeuten könnte, zu nivellieren und einander anzupassen. 


Seit 40 Jahren ist bekannt – und niemand hat widersprochen – die eigentlich zum Überleben reichende Wirtschaftskraft, das Bruttosozial-produkt, das Volkseinkommen, kann aufgrund technisch-funktioneller Veränderungen (auch hier gilt das Stichwort 4.0 und darüber hinaus 5.0, der Beginn wirklicher Kybernetik) von 15, 20, maximal 25 Prozent der Gesamtbevölke-rung dauerhaft geschaffen und gesichert werden. Was machen wir eigentlich mit dem dauerhaften Nicht-Gebraucht-werden, mit einer rapide wachsenden (altersbedingten) "brauch nicht mehr für mich zu sorgen"-Men-talität und -Realität? Anders gefragt:

Wird Solingen eine Lebens-Stadt. Oder bleibt es eine Arbeitsstätte mit Aufent-haltsmöglichkeiten ... ?

Wir konzentrieren Innovation permanent nur auf das Industriell-Wirtschaftliche. Dass wir Lebensqualitäts-Innovationen brauchen, kommt in der politisch-gesellschaftlichen Diskussion bislang eher nur am Rande vor. Wirtschaft dient dem Leben. Und nicht das Leben (nur) dem Arbeiten! Mal sehen, ob es hierfür Vorschläge gibt. 

Eigentlich sollte es uns (Demokraten) bis ins Mark erschüttern, alle Alarmglocken schrillen lassen. Aber nein, es wird beiläufig ausgespro-chen und achselzuckend zur Kenntnis genom-men: Die Politik mit ihrem unglücklichen Ge-flecht aus Gesetzesgestrüpp und ursprünglich wohlgemeinter, aber kaum noch nachvollzieh-barer Ideen entfernt sich immer mehr und rascher von der Denkweise und Vorstellungs-kraft der Bürger. Sie koppelt sich von der Lebenswirklichkeit ab. Der Satz des ollen Adenauers hat kaum noch Bedeutung, obwohl er das klügste war, was der Mann jemals gesagt hat (finde ich): "Nehmt die Menschen, wie sie sind. Wir haben keine anderen." Daraus folgt, wir sollten uns auch an die Uralt-Regel halten:

Gestalten (lassen). Statt verwalten (wollen).

Bei "Wir sind das Volk" haben wir noch gejubelt – nun geht das gleiche Volk als Pegida auf die Straße und sind entsetzt. Das erste hat eine dramatische Evolution ausgelöst, die zum Schluss eine Revolution war. Weil die herr-schende Klasse, "die Politik", nicht reagiert hat (altes DDR-Regime). Wer sagt eigentlich, dass nun die Bürgerproteste, ob man sie nun braun und rechts schimpft oder nicht, nicht auch solch eine Sprengkraft haben, wenn sich Politik nicht auf die Realität und "bürgerliches Den-ken" zubewegt. Mal schauen, ob dieses Thema überhaupt vorkommt.


Als mentale kurze Erholungspause im mentalen Galopp durch den Parcour der Probleme schlage ich einfach mal diese Erkenntnis vor:

Die Zukunft ist ein Ergebnis dessen, wie in der Gegenwart die Vergangenheit genutzt wurde.

Was im übrigen auch den Hinweis beinhaltet, den schon die alten Dichter perfekt ausgedrückt haben:

«Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht?»

«Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.»

«Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.»

Oder noch einfacher: «Man muss nicht permanent das Rad neu erfinden wollen».

Also, «Es erhebt sich die grundsätzliche Frage: Wie soll man in der Politik mit der Wahrheit umgehen? Die Antwort muß lauten: vorsichtig.» (Manfred Rommel)

Hingegen: «Alles Grundsätzliche ist grundsätzlich verdächtig.» (Werner Finck)


... und ging mit einem guten gefühl.

fazit

Solingen hat viele substanziell mental gut aufgestellte Knowledge-Cluster; Personen, Gruppen, Organisationen oder Institutionen, die konkret-genau, visionär-realistisch, state-of-the-art und mit genügend Erfahrung in ihren Fächern, aus und über die ganze Welt der Stadt Impulse geben können. Hier leben und für diese Stadt engagieren sich genügend "hochkarätige" Fachpersonen, deren Kompetenz ersichtlich, fundamental, oft auf beeindruckend hohem Niveau angesiedelt ist. 

Soweit das total Positive. Und dann die bittere Erkenntnis: Nur im Einzelfall sind diese Experten personengleich mit den Handelnden in den Entscheidungen treffenden Gremien oder institutionellen Stellen dieser Stadt. Erschreckend das Desinteresse der gewählten Volksvertreter an dieser Konferenz, die erstens in ihrer Art seit langer Zeit erst- und damit zunächst einmalig war und dann auch all das bot, was man in der Klingenstadt bislang schmerzlich vermisst hatte. Es reicht nicht, wenn Postenbewerber und ewig treu ackernde Parteisoldatinnen da sind (und im übrigen ein absolut gutes Bild abgaben) und einige "has beens" ("die von früher") zur Auffüllung sonst leerbleibender Stühle dienen müssen. Es ist erschreckend, dass andere Parteien fernbleiben, bis auf einzelne Ausnahmen, nur weil der Event von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung arrangiert wurde. Genau das, die offensichtliche Imkompetenz und das Desinteresse derjenigen, die sich haben in Verantwortung wählen lassen, ist, was Bürger bis zum Würgereiz zum Hals raushängt. Während die Experten und Erfahrenen mit unüberhörbarer, nein mit gänsehautgenerierender gruseliger Resignation ihre absolut guten, total richtigen, bemerkenswert pragmatischen Anregungen, Ideen, Visionen, Wege, Werkzeuge präsentieren, wie sich Solingen endlich am eigenen Schopf auf dem Sumpf der Verzweiflung und dem Dornröschenschlaf befreien kann – wissend, gut gebrüllt Löwe, aber es interessiert wieder mal keinen in Solingen. 

Doch. Einen zumindest. Und der fährt einen riskanten, wenngleich jeglicher Unterstützung werten Kurs. Tim Kurzbach, OB-Kandidat der SPD (und wenn nicht die Pferde vor der Apotheke kotzen, wird er es auch werden), verspricht – wiederholt, permanent, überzeugend-glaubwürdig – für Solingen sozusagen Runde Tische, Expertise zu bündeln, die Bürger als Fachleute mitzunehmen, einzubinden, ihr Engagement für die Stadt konkret zu nutzen. Dass er das vor hat, glaubt man ihm, keiner muss daran zweifeln. Aber doch massiv daran, dass er darin und damit viele Unterstützer in den jetzig existierenden Gremien und Instituionen findet. Denn die Innovationskonferenz im Frühjahr 2015 hat eins ganz deutlich gezeigt und unmissverständlich bis an die Schmerzgrenze aufgedeckt: Den denkfaulen, unmutigen, sich an Posten und damit auch Einkommen klammernden "Amtsinhabern" vieler Gremien gehört nicht nur das sprichwörtliche "Feuer unter dem Hintern" gemacht – eigentlich gehören sie gefeuert !

Tim Kurzbach wird, das ist seine Art, wieder sagen, nein so schlimm wäre es ja nicht, auch die würden gute Arbeit leisten. Ich kann verstehen, dass er nicht anecken möchte. Aber recht hat er deshalb nicht. Weil nämlich die Konferenz sehr, sehr, sehr klar machte:

Nicht „Solingen hat Probleme“, sondern die Politik insgesamt und über viele Jahre, alle Parteien und sämtliche Gremien hinweg hat Solingen die Probleme beschert, gemacht, verursacht. 

In dieser Stadt – und ihren entscheidenden Gremien, Institutionen, Relationen – hat man über Jahrzehnte (nicht erst seit kurzem) satt gepennt, die Realität verleugnet, keinen Blick für Entwicklungen gehabt. Es ist unerträglich geworden, dass man noch heute ein Bild einer heile-Welt-Innenstadt mit Fachgeschäften entwirft, wo Internet-Shopping längst Normaleinkaufsfall der Normalbevölkerung ist – nur um ein Beispiel zu nennen. Dass man Arbeitsplätze erhalten will, die längst weltweit roboterisiert sind – um ein anderes klarzumachen. Oder, drittens und genügend, nichts, aber auch nichts außer ein paar Tralala-Veranstaltungen bietet, um Neubürgern, Zugezogenen, jetzt-hier-leben-Wollenden oder -Müssenden Solingen als Wohlfühlstadt zu bieten; wir reden über Migration und Integration, dabei ist sie längst erfolgt und wird nur von denen verweigert, die gar nicht aus ihrer geistigen Enge herauswollen. Aber dass deswegen kulturelle Vielfalt gelebt wird – über Einzeltage und -Feste, über Sonntags- und Wahlkampfreden hinaus – Fehlanzeige. Allenfalls in der Gastronomie und bei kleinen Ladengeschäften funktioniert es. 

Und ... und ... und ...

Aber Schluss mit Jammern, denn:

Vieles, was in Solingen Problem ist oder als solches angesehen wird, ist „hausgemacht”. Was die Hoffnung nährt, dass sie auch vor Ort und Stelle wieder beseitigt werden können.