Gleichwohl rechtens, muss nicht alles richtig sein
Die Zulassung der Klage eines sich be- und getroffenen fühlenden Auslandsbewohners in Deutschland gegen einen deutschen Satiriker hat eine logische Konsequenz:
Nun darf Erdogan wegen Menschen- und Freiheitsrechtsverletzungen,
begangen in der Türkei, in Deutschland angeklagt werden.
Denn das besagt die Logik aus Merkels Votum.
Und – sie handelte sehr wohl nach deutschem Recht.
Aber auch insgesamt richtig ????
Vielleicht muss man ja dann den Terroristen, die die Charlie Hebdo-Redaktion mordeten, zwei, drei Tote weniger anrechnen, weil die Redaktion ja die Al-Quaida-Hardliner durchaus auch ein wenig beleidigt haben … ????????????
Und vielleicht dürfen ja auch in Syrien noch ein Städte totgebombt werden, weil Baschar al-Assad beleidigt wurde. Trump darf Schwule verbieten, weil das seine Ehre kränkt. China darf weiter hinrichten, weil die Deliquenten die Staatsmacht düpiert haben – – – und, und, und ... ???????????
Ob die Satire Böhmermanns schlechte Kunst war, ist eine andere Frage.
Da kann, darf, muss man laut „Pfui“ rufen, wenn einem das so erscheint.
Und es wäre konsequent, den Konsum seiner Werke zu boykottieren.
Aber – und das ist besonders zu bedenken – wenn Kunst nicht auch einmal irren darf, wie soll Kunst dann wissen, wo die Grenzen sind, die sie nicht überschreiten sollte?
Vielleicht sollten wir demnächst alle Kinder schlagen und misshandeln, die frech gegen ihre Eltern sind, obwohl die Kinder ermahnt worden sind. Merkel würde es gefallen und sie würde dieser Bestrafungsform sicher Grünes Licht geben. Ihrer Logik nach. Lieb sein ist nämlich Pflicht. Von Gesetz wegen.
Es sei daran erinnert, dass solche Form von Satire einst im Dritten Reich die einzige Form war – quasi durchs Verneinen des Verbotenen –, um noch
Botschaften loszuwerden und die Absurdität satire-gerecht zu überzeichnen.
Es läuft einem kalt über’n Buckel, wenn man jetzt erlebt, dass diese sicherlich extrem „schmerzhafte“ und für viele schwer verständliche Kunstform (eigentlich die logisch Überspitzung von Dada)
wieder in der anklagenden Kritik steht – sozusagen mit zumindest moralischem Verbot belegt wird.
Es geht nicht (mehr nur) darum,
den Satiriker Böhmermann zu verteidigen –
sondern die Meinungsfreiheit.
Sie ist IMMER mit der Gefahr verbunden,
„zu weit zu gehen“.
Würden wir jeden Politiker anklagen, der schon einmal andere beleidigt hat, ich bin sicher, wir hätten keine mehr. Keine Politiker mehr, nicht keine Anklagen mehr.
Und wer wissen will, wie die Schmähkritik gemeint ist, hier ist es dokumentiert:
http://www.spiegel.de/kultur/tv/jan-boehmermann-das-sind-die-fakten-der-staatsaffaere-a-1086571.html
Der Paragraph der „Majestätsbeleidigung“ ist derzeit dieser:
https://dejure.org/gesetze/StGB/103.html
Im übrigen: Es ist aus Sicht der Kanzlerin durchaus richtig, die Entscheidung der Justiz zu übertragen – denn so ist es im heutigen Deutschland vorgesehen.
Nur wäre über diesen de-jure-Vorgang hinaus ein klares Wort, eine klare Stellungnahme das gewesen, was die meisten erwartet hätten.
Demokratie darf kein Wegducken sein.
Dieses Vergehens hat sich Merkel – wieder einmal, viel zu oft – schuldig gemacht.
Demokratie braucht Meinung. Auch wenn sie weh tut.
Und kein Wischiwaschi, das zum Schluss Politik genannt wird.
Lieber einmal bei schlechter Satire aufschreien, als wegen des Vermeidens von Fehlern schweigen zu müssen.
Je suis horrifié. — Ich bin entsetzt.
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Nachtrag: Dürfen nun auch wir, wir Deutschen, wir Belgier, Franzosen, Engländer, Schweden usw. in der Türkei Klage einreichen, wenn deren Staatsoberhaupt die Presse unterdrückt und damit "westliche" Moral und Gefühle beleidigt? Dürfen wir Kriegsherren in deren jeweiligen Ländern anklagen, weil sie nicht nur beleidigen, sondern töten – dürfen wir für US-Präsidenten, die möglicherweise dies nicht gewollt haben, aber de facto förderten, die in den USA übliche Todesstrafe fordern, weil sie nämlich durch ihre Soldaten unglaublich viele Menschen töten ließen?
Mehr noch: Dürfen wir, auch und vor allem hier in Deutschland, wieder zulassen, dass nunmehr Toleranz – vor allem in der Kunst – zurückgeschraubt wird auf den Jähzorn einzelner? Noch einmal zur Erinnerung: Genau das war ein wesentlicher Punkt, der das deutsche Dritte Reich zum Horror gemacht hat und schließlich den Nährboden schuf für noch entsetzlichere Gräueltaten, die im bestialischen Morden endeten.
In meiner persönlichen politischen "Erziehung"=Bewusstseinsbildung, in sehr offenen und vielschichtigen, von einem unbedingten Willen zu Frieden geprägten Gesprächen in den 60er und 70er Jahren, wurde uns immer wieder von älteren aus deren Erfahrung eingebläut, seid achtsam: "Wehret den Anfängen". Ein Satz, der auf den römischen Dichter Ovid (um Chr. Geb.) zurückgehen soll und noch heute aktiv und aktuell genutzt wird.
Das Behindern von Toleranz vor allem der Kunst gegenüber darf – so widersprüchlich es sich anhören mag – keine Toleranz erwarten.
Will sagen: Wer Kunst angreift, macht sich strafbar. — Nicht der Künstler.
Dem könnte man gehörig den Marsch blasen, weil er vielleicht so schlecht, geschmacklos, überheblich war. Aber wenn aus bis zum Exzess überspitzter Satire plötzlich Realität wird – – dann war der Künstler wahrlich nicht schlecht. Sondern hat genau das getan, was der Künstler Aufgabe ist: ihre Mitmenschen anzuregen, die Welt anders zu betrachten als in ihren jeweiligen Vor-Urteilen. Absurditäten kann man manchmal nur durch Absurditäten sichtbar machen. Was eben nicht, auch auf Geheiß eines türkischen Intoleranz-Potentaten, zu verurteilen ist, solange es Einzelfall bleibt. Man kann es rügen. Das muss anfänglich genügen.
In anderen Bereichen, z. B. Presserecht und Werbung, im Arbeits- und Geschäftsleben gilt dies auch, für Kunst muss es erst recht gelten.
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Summa summarum: Ganz sicher geschieht, was die Kanzlerin entschied, was deutsche Gerichte entscheiden werden, nach derzeitigem Recht und Gesetz. Aber immer mehr erleben wir, dass die Gesetze nicht mehr den Zeitgeist abbilden, schlichtweg "veraltet" sind. Wenn Recht nicht mehr überwiegend zum Gefühl der Mehrzahl der Mitglieder einer Nation passt, dann passiert, was schon oft passiert ist: Sie zerbricht. Dann ist irgendwann der geringste Anlass Auslöser für die größtmögliche Katastrophe.
Dann kann auch Kunst nichts mehr retten.
So sehen wohl viele Bürger den Wandel der Kanzlerin:
Ausgehend von einem gesunden Selbstvertrauen in die eigene Stärke schliddert man in eine trübe Unklarheit, um dann beim Kuschen und Vertuschen zu landen ... ???